Forschungsstelle Hebamme

Wann ist der richtige Moment für den Spitaleintritt bei einer Geburt?

Die erste Phase der Geburt, die sogenannte Latenzphase, ist eine Herausforderung für schwangere Frauen: Sie kann wenige Stunden dauern oder sich über mehrere Tage hinziehen. Das erschwert es, den richtigen Zeitpunkt für den Spitaleintritt abzuschätzen. Susanne Grylka vom Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit entwickelt in Zusammenarbeit mit Spitälern einen Fragebogen, der Hebammen künftig als Entscheidungsgrundlage dienen soll.

Es ist schwierig, den Beginn einer Geburt zu definieren, zu unterschiedlich sind die Verläufe. Die Wehen können regelmässig oder unregelmässig, stark oder schwach oder mit langen Pausen dazwischen auftreten. Die Latenzphase ist der erste Teil der Geburt, in der sich der Körper auf das bevorstehende Ereignis vorbereitet. «Für die Hebammen geht eine Geburt erst richtig los, wenn sich der Muttermund öffnet. Bei den Frauen setzt die Geburt aber gefühlsmässig viel früher ein», beobachtet Susanne Grylka, die lange Zeit als Hebamme gearbeitet hat. Die Forscherin am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit beschäftigt sich intensiv mit der Latenzphase bei Erstgebärenden und konnte die Jury des Förderprogramms Practice-to-Science des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) vom Projekt GebStart überzeugen (siehe Kasten «Von der Praxis zur Professur). In diesem entwickelt sie ein Instrument, mit dem der körperliche und emotionale Zustand sowie das Wohlbefinden der Frau während der Latenzphase beurteilt werden können und das so Hebammen bei der Entscheidung hilft, wann die Gebärende ins Spital eintreten sollte. 

«Viele Erstgebärende haben Angst, dass sie zu spät ins Spital gehen.»


«Das Thema ist in der Praxis sehr wichtig», erklärt Susanne Grylka. «Für die Frauen ist der Geburtsbeginn eine schwierige Zeit, da sie nicht wissen, was sie erwartet. Und niemand kann ihnen genau sagen, wann und wie die Geburt losgehen und wie lange sie dauern wird. Viele Erstgebärende haben deshalb Angst, dass sie zu spät ins Spital gehen.» Susanne Grylka weiss aus ihrer Arbeit auf der Geburtenabteilung, dass meist das Gegenteil der Fall ist und die Geburt länger dauert als erwartet. Weitere Gründe für einen zu frühen Spitaleintritt sind der Umgang mit den Schmerzen, Unsicherheit oder dass die Frauen die Vorwehen als Geburtswehen einschätzen. Die Latenzphase ist auch für Hebammen und Gynäkologen eine Herausforderung, da sie einen zu frühen Eintritt ins Spital vermeiden möchten. Denn dort erhöhen die regelmässigen Kontrollen durch Hebammen und Ärzte den Druck auf die Frau, dass die Geburt vorwärtsgehen muss. Oft führt das zu mehr Interventionen – von schmerzstillenden oder wehenfördernden Mitteln bis zum Kaiserschnitt. «Im Spital stehen die Wehen im Zentrum», so Susanne Grylka. «In der Latenzphase kann es aber durchaus Wehenpausen geben». Diese Pausen können der Gebärenden Ruhe und Erholung geben, durch ihre Länge aber auch erschöpfend sein.

Die Hebammen im Spannungsfeld
Aus ihrer Forschung weiss Susanne Grylka, dass es für ungefähr drei Viertel der Frauen gut ist, möglichst lange daheim zu bleiben. «Etwa ein Viertel der Frauen steigert sich aber zuhause in grosse Ängste, die sich negativ auf den Geburtsverlauf auswirken können.» Denn Ängste hemmen die Geburt, nehmen den Frauen viel Energie und Kraft, die ihnen beim weiteren Verlauf fehlt. Langes Abwarten daheim ist ebenfalls ungünstig, wenn die Frauen wegen der Wehen längere Zeit nicht schlafen können und deshalb stark übermüdet sind. Die Hebammen befinden sich laut Grylka bei der Betreuung der schwangeren Frauen in einem Spannungsfeld: «Die Frauen sollten wenn möglich nicht zu früh ins Spital kommen, aber auch nicht mit ihren Ängsten allein daheim bleiben.»

Ist die Frau zuversichtlich oder verunsichert?
Ein Schlüsselmoment ist der Anruf der Gebärenden an die Hebamme im Spital. Bis jetzt steht in diesen Gesprächen das körperliche Befinden im Fokus, die Fragen werden dabei eher zufällig gestellt. Nach emotionalen Symptomen wird nur am Rande gefragt. Und: «Je nachdem, wie viel im Gebärsaal los ist, ist das Gespräch kürzer oder länger, wird besser hingehört oder weniger», weiss Susanne Grylka. Denn die Arbeit im Gebärsaal gleicht der in einer Notaufnahme, Es kann nie vorhergesehen werden, wie viele Gebärende kommen werden. Entsprechend schwierig ist die Personalplanung.

Mit ihrem Team entwickelt sie in der GebStart-Studie deshalb einen standardisierten Fragebogen, der sowohl die körperlichen als auch die emotionalen Symptome erfasst und somit eine fundierte Entscheidungsgrundlage bietet. «Wichtig wäre es, jene Frauen zu erkennen, für die ein früher Spitaleintritt gut ist», so Susanne Grylka. Neben körperlichen Merkmalen wie etwa Stärke und Regelmässigkeit der Wehen sollen mit den Fragen auch psychische Aspekte abgeklärt werden. Zum Beispiel, ob die Frau zuversichtlich oder verunsichert ist.

Sechs Spitäler machen bei der Studie mit
Dass der Bedarf nach einer Entscheidungshilfe für den Spitaleintritt in der Praxis gross ist, zeigt sich an der Beteiligung von sechs Spitälern am Projekt: So haben unter anderen die Universitätsspitäler Zürich und Basel dem Antrag an den SNF ein Unterstützungsschreiben beigelegt und stehen nun als Studienzentren zur Verfügung. Bereits in der Vorbereitungsphase stiess das Projekt auch international auf Interesse. Denn in der Forschung gibt es zwar zahlreiche Literatur über die Latenzphase, die Definition des Geburtsbeginns ist trotzdem ein ungelöstes Problem. Die Forschungsarbeiten zeigen jedoch ziemlich klar, dass die Frauen in dieser Phase individueller betreut werden müssen. «Im Spital fehlen allerdings die Ressourcen, um jene Frauen zu begleiten, bei denen die Geburt noch nicht vorwärtsgeht» stellt Susanne Grylka fest. Grundsätzlich werde man in dieser Phase den Bedürfnissen der Frauen oft nicht gerecht.

Testlauf mit 400 schwangeren Frauen
Das Projekt startete im Mai 2021 und läuft über drei Jahre. Nach einer breiten Literaturrecherche sind Interviews mit 15 bis 20 Frauen geplant, die kürzlich geboren haben. Sie werden zu den Symptomen bei Geburtsbeginn sowie zum Erleben der Betreuung in der Latenzphase befragt. Daraus entsteht ein Pool an 70 bis 100 Fragen, der wiederum zu einem Fragekatalog mit 30 bis 45 Fragen verdichtet wird. Die Fragen werden mit einem Punktesystem kombiniert, um Hinweise auf den Betreuungsbedarf zu erhalten. Dieser vorläufige Fragebogen soll im Anschluss mit rund 400 Gebärenden in den sechs beteiligten Spitälern getestet werden. Nach dieser Phase wird der Fragebogen nochmals reduziert: Letztlich sollen es nicht mehr als 15 bis 20 Fragen sein, anhand derer Hebammen künftig besser abschätzen können, wann eine gebärende Frau ins Spital eintreten sollte.

Von der Praxis zur Professur

Das neue Förderinstrument Practice-to-Science des Schweizerische Nationalfonds (SNF) hat zum Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der anwendungsorientierten Forschung zu stärken. Expertinnen und Experten mit ausgewiesener Praxiserfahrung konnten sich 2020 erstmals für Practice-to-Science-Beiträge bewerben. Von 104 eingereichten Projekten wurden elf ausgewählt. Die Leitenden dieser Projekte erhalten als Erkennung für ihre Arbeit einen Professorentitel einer Fachhochschule. Die Projekte werden maximal drei Jahre lang unterstützt mit einem Höchstbetrag von 200 000 Franken pro Jahr.

Dr. Susanne Grylka
ZHAW Gesundheit
Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur

41 (0) 58 934 43 77


Entwicklung und Validierung eines Tools für die Beratung von Erstgebärenden in der Latenzphase (GebStart-Studie)

Projektleitung
Dr. Susanne Grylka (Forschung ZHAW-Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit)

Projektteam
Antonia Nathalie Müller (Forschung ZHAW-Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit)

Finanzierung
Practice-to-Sciene-Programm des Schweizerischen Nationalfonds (SNF)

Projektpartner
Universitätsspital Zürich, Universitätsspital Basel, Kantonsspital Baden AG, Luzerner Kantonsspital, Kantonsspital Winterthur KSW, Stadt Zürich / Stadtspital Triemli