Forschungsstelle Pflege
Kinderkrebs hinterlässt Spuren – auch bei den Angehörigen
Da Überlebende von Kinderkrebs häufig unter Spätfolgen leiden, sind in den letzten Jahren spezialisierte Angebote entstanden. Welche Bedürfnisse ihre Angehörigen haben und welche Nachsorge sie benötigen, klären Pflegewissenschaftler in einem Projekt.
87 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die an Krebs erkranken, können heute geheilt werden. Viele dieser Langzeitüberlebenden sind körperlich aber eingeschränkt, da aggressive Behandlungen auch gesunde Zellen angreifen. Sie leiden etwa unter Organschäden, hormonellen Störungen oder Stoffwechselproblemen. Mit solchen körperlichen Spätfolgen werden sie oft erst Jahre, nachdem sie als genesen entlassen wurden, konfrontiert. Das Risiko für schwere Komplikationen begleitet sie ihr Leben lang. Sie sind darüber hinaus von psychischen und sozialen Auswirkungen betroffen. Um sie adäquat zu unterstützen und als Erwachsene weiter zu begleiten, ist die Nachsorge in den letzten Jahren verbessert worden. Mögliche Spätfolgen werden stärker berücksichtigt. Mehrere Spitäler haben spezifische Sprechstunden eingerichtet, welche Patientinnen und Patienten aus der ganzen Schweiz offenstehen. Die Fachleute arbeiten an einem einheitlichen Vorgehen.
«Angehörige berichten von Ängsten, Stress und Schlafstörungen»
Kinderkrebs hinterlässt jedoch nicht nur bei den Erkrankten Spuren. Eltern und Geschwister können ebenfalls Spätfolgen entwickeln. Wie Untersuchungen zeigen, sind unter ihnen beispielsweise posttraumatische Stresssymptome sowie posttraumatische Belastungsstörungen weit verbreitet. «Angehörige berichten von Ängsten, Stress und Schlafstörungen», sagt Franzisca Domeisen Benedetti, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflege. Sie ist Co-Leiterin des Projekts «Challenges for families of longterm survivors of childhood cancer during transition from adolescence to young adulthood» und führt seit Februar 2020 narrative Interviews mit Eltern durch. Allen bisher Befragten sei die akute Phase der Krankheit noch sehr präsent, sagt sie. «Wenn sie erzählen, zeigen sie starke Emotionen – selbst nach 15 Jahren.» Sie seien gedanklich sofort wieder in der für alle schwierigen Zeit. Die meisten schätzten es, einmal in Ruhe schildern zu können, wie sie diese erlebt haben.
Beziehung der Eltern wird gefordert
Die ZHAW-Mitarbeiterin beschreibt Angehörige von Kinderkrebspatientinnen und -patienten als äusserst vulnerabel. In der Krise würden sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen und sich auf das Überleben des betroffenen Kindes konzentrieren. Oft bleibe dieser Fokus lange bestehen, auch wenn sich der Alltag wieder einstelle. Franzisca Domeisen Benedetti erzählt von einer Mutter, die sich eine Rehabilitationsphase gewünscht hätte. «Ich hätte profitiert, wenn ich eine Auszeit gehabt hätte», sagte diese im Gespräch.
In den meisten Fällen kümmern sich hauptsächlich die Mütter und allfällige Geschwister um das kranke Kind, während die Väter weiter ihrem Beruf nachgehen, um finanziell über die Runden zu kommen. Reduziert ein Elternteil seine Erwerbstätigkeit, kann es zu existenziellen Nöten kommen, was eine Familie zusätzlich belastet. Die Eltern werden zudem in ihrer Partnerschaft herausgefordert: Sie können sich aus den Augen verlieren oder erst recht zusammenwachsen. «Was alle Befragten verbindet: Sie schätzen den Wert der Familie als sehr hoch ein», so Domeisen Benedetti.
Das familiäre Umfeld ist mitbetroffen
Erste Resultate der Studie belegen, dass auch Mütter, Väter und Geschwister von Kinderkrebs-Überlebenden unter Langzeitwirkungen leiden. Bestehende Nachsorgeprogramme schenken dem allerdings erst wenig Beachtung. Insbesondere während der Transition, wenn geheilte Jugendliche zur Erwachsenenmedizin wechseln, gehen Angehörige gerne vergessen. «Das möchten wir ändern», sagt die Soziologin.
Co-Studienleiter André Fringer macht sich für eine systemische Erforschung stark. Gesundheit dürfe nie nur individuell betrachtet werden, sagt er. Das Familiensystem eines kranken Kindes sei immer vollumfänglich mitbetroffen. Angehörige seien in allen Stadien der Erkrankung präsent, engagierten sich bis an ihre Belastungsgrenze und würden Gefahr laufen, auszubrennen. «Betreuende Angehörige erhalten heute in der Gesundheitsversorgung nicht den Stellenwert, den man ihnen aufgrund ihrer überaus wichtigen Rolle geben müsste», kritisiert der Professor für familienzentrierte Pflege.
Nachsorge für die Bezugspersonen
Mit dem von Stiftungen finanzierten Projekt geben die Wissenschaftler Gegensteuer. Sie klären, welche Bedürfnisse das familiäre Umfeld von Langzeitüberlebenden hat, wie es bestehende Angebote beurteilt und welche Unterstützung es sich wünscht. Bis Ende Jahr wollen sie gegen 25 Befragungen abgeschlossen haben. Die Ergebnisse werden sie danach nutzen, um ein Schulungsprogramm zu erarbeiten. «Die Nachsorge für primäre Bezugspersonen soll in vorhandene Angebote integriert werden», sagt Franzisca Domeisen Benedetti. Es soll allen offenstehen und von den Krankenkassen vergütet werden. Nicht nur die geschätzten 5000 bis 7000 Menschen, die in der Schweiz Kinderkrebs überstanden haben, sollen besser versorgt werden. Künftig sollen auch ihre Mütter, Väter und Geschwister, die unter Spätfolgen leiden, Hilfe erhalten.
Prof. Dr. André Fringer
ZHAW Gesundheit
Institut für Pflege
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Weitere Informationen
Challenges for families of longterm survivors of childhood cancer during transition from adolescence to young adulthood – Phase 1
Co-Projektleitung
Dr. Franzisca Domeisen Benedetti und Prof. Dr. André Fringer (Forschung und Entwicklung, ZHAW-Institut für Pflege)
Projektteam
Patric Pelican (Forschung und Entwicklung, ZHAW-Institut für Pflege)
Finanzierung
Stiftungen (u. a. Hans Altschüler Stiftung)
Projektpartner
Kinderspitex Nordwestschweiz, Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung