Die Gesundheitsversorgung von älteren Menschen verbessern

Klienten profitieren von Vernetzung

Wie gut ältere Menschen ambulant versorgt werden, hängt stark von den lokalen Strukturen ab. Entscheidend sind Absprachen und gemeinsame Therapieziele der involvierten Fachleute. Die Forschungsstelle Ergotherapie zeigt sechs innovative Modelle für die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf.

Um pflegebedürftige Menschen, die zu Hause leben, kümmern sich oft mehrere Berufsgruppen. Mitarbeitende der Spitex helfen bei der täglichen Körperhygiene, wechseln Verbände und versorgen Wunden. Ärztinnen und Ärzte stellen Diagnosen, behandeln und verordnen Therapien. Fachleute der Physio- und der Ergotherapie führen diese durch. Hinzu kommen Sozialdienste und Nachbarschaftshilfen. «In der Schweiz ist die ambulante Versorgung älterer Menschen stark fragmentiert», sagt Ursula Meidert, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Ergotherapie am ZHAW-Departement Gesundheit.

«Vulnerable Personen werden tendenziell benachteiligt.»

Einheitliche Prozesse und Strukturen fehlen. Um adäquat versorgt zu werden, müssen Klientinnen und Klienten sowie Angehörige häufig selbst aktiv werden. Sie koordinieren die beanspruchten Leistungen und übernehmen einen grossen Teil der Kommunikation zwischen den Anbietern. Je nach Sprachkompetenz, Erkrankung und Informationsstand gelingt ihnen dies besser oder schlechter. «Vulnerable Personen werden tendenziell benachteiligt», sagt die ZHAW-Forscherin, die von 2017 bis 2020 das Projekt «Innovative Modelle für die Zusammenarbeit in der ambulanten Versorgung» geleitet hat. Diese Personen haben am ehesten unter Doppelspurigkeiten, Lücken oder Fehlbehandlungen zu leiden. Denn nicht nur das Selbstmanagement hat einen Einfluss darauf, ob eine Erkrankung angemessen therapiert wird. Eine ebenso entscheidende Rolle spielt, wie die verschiedenen Dienste in einer Gemeinde organisiert und koordiniert werden und welche persönlichen Kontakte vorhanden sind. Ursula Meidert sagt daher: «Wie gut jemand versorgt wird, ist bisweilen zufällig.»

Mit Forschung gegen den Fachkräftemangel

Das Projekt «Innovative Modelle für die Zusammenarbeit in der ambulanten Versorgung» ist Teil des sechsteiligen Standortprojekts «Fachkräfte erforschen: Berufskarrieren und Berufsverweildauer Gesundheitsberufe» des ZHAW-Departements Gesundheit. Das Standortprojekt wird im Rahmen des Competence Network Health Workforce (CNHW) durchgeführt, ein Kompetenznetzwerk von fünf Schweizer Hochschulen, die Gesundheitsberufe ausbilden. Das Netzwerk soll dazu beitragen, den Fachkräftemangel im Schweizer Gesundheitswesen zu entschärfen.

Unterschiedliche Vergütungsstrukturen erschweren Zusammenarbeit
Dass der Austausch unter medizinischen Fachkräften teilweise mangelhaft ist, hat auch mit dem aktuellen Vergütungssystem zu tun. Dieses sieht für koordinative und dokumentierende Aufgaben nämlich keine einheitlichen Entschädigungen vor. Hausärzte können die Zeit, die sie dafür aufwenden, am einfachsten abrechnen. Spitex-Organisationen werden seit 2012 ebenfalls entschädigt. Physiotherapeutinnen und -therapeuten erhalten für solche Leistungen hingegen kein Geld. «Diese unterschiedlichen Vergütungsstrukturen erschweren die interprofessionelle Zusammenarbeit», kritisiert Ursula Meidert. Gerade bei komplexen Fällen könne dies die Versorgungsqualität schmälern.

Gärtchendenken der einzelnen Berufsgruppen
Die Wissenschaftlerin, welche die Situation in der Region Baden untersucht hat, beobachtet zudem ein Gärtchendenken. Die einzelnen Berufsgruppen und Organisationen kümmern sich primär um ihre eigenen Belange. Sie stehen teilweise in Konkurrenz zueinander und haben Interessenkonflikte. «Es muss ein Umdenken stattfinden», findet Ursula Meidert. Sie verweist darauf, dass die Gesellschaft älter wird, chronische Krankheiten deutlich zunehmen und die meisten Menschen den Wunsch haben, im Alter möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben. Diese Herausforderungen lassen sich ihrer Meinung nach nur meistern, wenn die interprofessionelle Zusammenarbeit gestärkt wird.

Case-Management als eigene Funktion
Mit ihrem Team hat Ursula Meidert sechs innovative Modelle evaluiert. Was diese verbindet, ist die Idee, dem Case-Management mehr Gewicht zu geben. Es kann bei Arztpraxen, bei der Spitex sowie bei Gesundheits- oder Pflegezentren angesiedelt werden und soll von den Krankenkassen nach einem einheitlichen Tarif abgegolten werden. «Es braucht jemanden, der die Übersicht hat, die unterschiedlichen Dienstleister kennt und Behandlungen koordiniert», so Meidert. Um den Austausch zu erleichtern, sollen zudem vermehrt technische Hilfsmittel eingesetzt werden. Das elektronische Patientendossier könnte dafür in Frage kommen.

6 Modelle für die interdisziplinäre Zusammenarbeit

Modell 1: Hausarztpraxis mit Case Management (CM)

Das Modell sieht vor, dass Hausarztpraxen eine explizite Case-Management-Funktion übernehmen und andere externe Gesundheitsdienstleister koordinieren. Diese Modell belässt die Strukturen in der ambulanten Versorgung weitgehend wie sie derzeit sind. Einzig das professionelle Casemanagement wird zusätzlich in die Arztpraxen integriert, die Koordination aller Dienstleistungen erfolgt von dort. Vorteil des Modells ist, dass es keine Umstrukturierungen oder Rollenwechsel geben würde – benötigt wird lediglich eine Vergütung des CM und die Weiterbildung der verantwortlichen Person.

Modell 2: Multiprofessionelles Gesundheitszentrum mit Case-Management (CM)

Beim zweiten Modell handelt es sich um ein multiprofessionelles Gesundheitszentrum, in das neben einer Arztpraxis auch Therapieangebote sowie das Case-Management integriert sind. Dieses koordiniert sowohl zwischen den hausinternen als auch externen Gesundheitsdienstleistern. Gesundheitszentren bieten den Vorteil von Gemeinschaftspraxen, kurzen Kommunikationswegen sowie umfassenden Gesundheitsdienstleistungen unter einem Dach.

Modell 3: Multiprofessionelles Gesundheitszentrum mit Case-Management (CM) und Spitex

Im dritten Modell wird ein multiprofessionelles Gesundheitszentrum mit Case-Management ergänzt durch eine hausinterne Spitex. Das Case-Management übernimmt die interne wie auch die externe Koordination mit Organisationen aus der Sozialen Arbeit und dem Gemeinwesen. Der Vorteil dieses Modells liegt im Zusammenschluss der verschiedenen ambulanten Gesundheitsdienstleistungen unter einer Organisation und damit in kürzeren Kommunikationswegen, einer einfacheren Kommunikation und dank des Case-Managements auch in einer besseren Koordination mit weiteren Organisationen ausserhalb des Gesundheitswesens.

Modell 4: Multiprofessionelle Spitex mit CXase-Management (CM)

Modell 4 sieht eine multiprofessionelle Spitex vor, die neben der Physio-und Ergotherapie auch Hauswirtschaftsdienste und einCase-Management beherbergt. Dieses koordiniert fallbezogen sowohl die internen Abläufe als auch den Kontakt zur Hausarztpraxis, dem Sozialdienst sowie denOrganisationen des Gemeinwesens und zur Entlastung. Dieses Modell entspricht am ehesten den Centres médico-sociaux, die im Kanton Waadt verbreitet und erprobt sind.

Modell 5: Niederschwelliges Case-Management (CM) im Rahmen der Quartiersarbeit

 In Modell 5 wird das Case-Management durch eine Organisation des Gemeinwesens erbracht und fungiert gleichzeitig als Triage-Stelle. Diese sollte möglichst niederschwellig und im Rahmen der Quartiersarbeit geschehen, z.B. durch Sozialarbeiter/-innen. Der Vorteil dieses Modells liegt in der Niederschwelligkeit des Casemanagements, seiner Triage-Funktion sowie der Unabhängigkeit, mit deres beraten und überweisenkann.

Modell 6: Pflegezentrum mit Spitex und Gesundheitszentrum

Modell 6 sieht ein Alters-oderPflegezentrum vor, in das Spitex und ein multiprofessionelles Gesundheitszentrum integriert sind. Das Case-Management erfolgt zentral und koordiniert innerhalb der Institution, wie auch ausserhalb mit Organisationen des Gemeinwesens und der Sozialen Arbeit. DerVorteil dieses Modells liegt in einer kontinuierlichen Gesundheitsversorgung, unabhängig davon, ob eine Person zuhause lebt oder irgendwann in ein Alters-oder Pflegeheim eintritt.

Behörden sollen neue Strukturen anregen
«Man muss in jeder Gemeinde individuell schauen, was fehlt», sagt die Projektleiterin. Je nachdem sei ein anderes Modell empfehlenswert. Es sei Sache der Behörden, die interprofessionelle Vernetzung voranzutreiben. Sie müssten alle Leistungserbringer an einen Tisch bringen, sich am Aufbau integrierter Versorgungsstrukturen beteiligen und allenfalls eine professionelle Begleitung finanzieren. Einzelne Gemeinden seien durchaus innovativ, räumt Ursula Meidert ein; positive Beispiele werden in der Studie denn auch diskutiert. Viele handelten jedoch erst, wenn sich eine Situation zuspitze. Es mangle am politischen Willen, bestehende Strukturen rechtzeitig zu überdenken. Kritiker argumentieren häufig mit dem finanziellen Aufwand. Studien aus dem Ausland deuten allerdings darauf hin, dass sich effizientere Abläufe kostensenkend auswirken. Interprofessionelle Kooperationen dürften des Weiteren mit einem besseren Arbeitsklima, einer längeren Verweildauer und einer höheren Zufriedenheit in Gesundheitsberufen einhergehen. Heutige Berufseinsteiger seien – anders als frühere Generationen – weniger bereit, aus Idealismus eine eigene Praxis zu führen, sagt Dozentin Meidert. «Für sie ist es attraktiv, in ein Netz eingebunden zu sein.»


Innovative Modelle für die Zusammenarbeit in der ambulanten Versorgung

Projektleitung
Ursula Meidert (Forschung und Entwicklung, ZHAW-Institut für Ergotherapie)

Projektteam
Thomas Ballmer (Forschung und Entwicklung, ZHAW-Institut für Ergotherapie)

Finanzierung
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI