Die Gesundheitsversorgung von älteren Menschen verbessern

Sterbefasten: Mit Verzicht das Leben beenden

Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) kann für schwerkranke Menschen eine Option sein, ihr Leben selbstbestimmt und vorzeitig zu beenden. Doch das Sterbefasten rückt in der Schweiz erst allmählich ins gesellschaftliche Bewusstsein. Forschende am ZHAW-Institut für Pflege haben erstmals empirische Daten zur Verbreitung des FVNF und zu den Personen, die auf diesem Weg aus dem Leben geschieden sind, erhoben.

Die Schweiz gehört weltweit zu den wenigen Ländern, in denen die Beihilfe zum Suizid erlaubt ist. Organisationen wie Dignitas oder Exit begleiten jedes Jahr Hunderte Menschen in den Freitod – was zu einem regelrechten Sterbetourismus in die Schweiz geführt hat. Neben dem assistierten Suizid rückt unter dem Begriff Sterbefasten allmählich eine andere Art, das eigene Leben vorzeitig zu beenden, ins öffentliche Bewusstsein: der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). «Die Debatte um den FVNF nimmt in der Schweiz erst seit Kurzem konkretere Züge an», sagt André Fringer, Co-Leiter Forschung und Entwicklung und des Masterstudiengangs am ZHAW Institut für Pflege. Angesichts der Tatsache, dass Essen und Trinken zu den existenziellen Dingen des Lebens gehörten, sei die Situation, in der ein Mensch freiwillig darauf verzichte, eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten. «Sterbefasten wird deshalb kontrovers diskutiert.» Um die Debatte rund um das Phänomen auf eine sachliche Grundlage zu stellen und den Umgang damit zu professionalisieren, hat Fringer mit einem Forschungsteam eine schweizweite Befragung von Gesundheitsfachpersonen zu FVNF durchgeführt.

Erfahrungen mit Sterbefasten
Mit der von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) finanzierten Studie «Voluntary Stopping of Eating and Drinking in Switzerland from Different Points of View» wurden erstmals die Häufigkeit von FVNF in der Schweiz sowie die Erfahrungen, Einstellungen und Haltungen von Gesundheitsfachpersonen damit erfasst. Dazu wurden Hausärztinnen und Hausärzte sowie Führungspersonen in der Spitex- und der Langzeitpflege befragt, die bereits eine Person beim FVNF begleitet haben. 627 Gesundheitsfachpersonen nahmen an der Befragung teil. «Wir konnten damit für die Schweiz einzigartige empirische Daten zum Sterbefasten erheben», sagt Studienleiter André Fringer.

Weiblich und im hohen Alter
«FVNF kommt grossmehrheitlich bei Frauen und im hohen Alter vor», fasst André Fringer die wichtigsten Resultate der Studie zusammen. Dass der Anteil der Frauen (63 Prozent) so hoch ist, liegt gemäss den Forschenden vermutlich daran, dass diese in der Regel älter werden als Männer und nach dem Tod ihres Partners unter Einsamkeit leiden. Laut Studienleiter Fringer könnte aber noch ein weiterer Faktor eine Rolle spielen: «Frauen schauen stärker zu ihren Partnern und sorgen dafür, dass diese Essen und Trinken zu sich nehmen.»

Wer entscheidet sich für das Sterbefasten?
Besonders häufig entscheiden sich Menschen mit einer onkologischen Erkrankung für den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. Mit 40 Prozent machte diese Gruppe den mit Abstand grössten Teil der FVNF-Fälle in der Befragung aus. Das Durchschnittsalter der Personen, die den Weg des Sterbefastens gewählt haben, lag bei 80 Jahren. Die meisten Menschen waren 70 Jahre und älter (87,1 Prozent), fast die Hälfte war zwischen 80 und 89 Jahren alt. Die voraussichtliche Lebenserwartung lag über alle Personengruppen gesehen bei 36,5 Prozent der Fälle zwischen einer Woche und einem Monat, bei 36 Prozent betrug sie zwischen einem Monat und einem Jahr. Eine auffällige Abweichung dieses Werts: Der Anteil der Personen mit einer Lebenserwartung von einer Woche bis zu einem Monat war bei onkologischen Erkrankungen mit rund 50 Prozent deutlich höher als bei den anderen Personengruppen. «Onkologische Patienten sind nicht lebens-, sondern kampfesmüde. Sie entscheiden sich erst im Endstadion der Krankheit fürs Sterbefasten – dann, wenn der Leidensdruck zu gross geworden ist», vermutet André Fringer. Bei den anderen Gruppen zeigte die Befragung hingegen, dass jeweils zwischen 28 und rund 35 Prozent der Personen noch eine Lebenserwartung von über einem Jahr hatten. Bei diesen Menschen spielt laut André Fringer die Lebensmüdigkeit, oft aber auch eine grosse Einsamkeit in den Entscheid zum Sterbefasten hinein. «Sie sagen dann, dass sie schon längst gehen möchten.»

Unterschiedliche Gründe fürs Sterbefasten
Wie die Studie zeigt, sind die Gründe für den Entscheid zum FVNF mannigfaltig und treten meistes in Kombination auf. Bei etwa der Hälfte der Personen beeinflussten physiologische Gründe, die zu einer geringen Lebensqualität führen, das Leiden ohne Aussicht auf Verbesserung oder Schmerzen sowie psychische Faktoren (Müdigkeit/Erschöpfung) den Entscheid zum FVNF. Hinzu kamen soziale (Angst vor Abhängigkeit und Verlust von Autonomie) und spirituelle (z.B. Sinnlosigkeit des Lebens) Aspekte.

«Bei Demenz ist der FVNF sehr kritisch zu prüfen und klar zu regeln.»

Neben der Charakterisierung der Personengruppen wurden die Gesundheitsfachpersonen auch zum Ablauf des Sterbefastens befragt. In den meisten Fällen – bei 68,4 Prozent – wurde der Entscheid zum FVNF kurz vor Eintritt des Todes getroffen, selten zu Beginn (10,9 %) oder im Verlauf (8,7 %) einer Erkrankung. Was bei den Gesprächen, das Leben vorzeitig mit dem FVNF zu beenden, auffällt: Bei den dementiell erkrankten Personen waren die Betroffenen selbst deutlich weniger häufig (84,4 Prozent) daran beteiligt als im Durchschnitt aller Personengruppen (92,8 Prozent). «Ich habe die Befürchtung, dass bei einem dementiell erkrankten Menschen, der kein Essen zu sich nimmt, rasch das Urteil gefällt wird: Der will nicht mehr essen», sagt André Fringer. Es komme jedoch vor, dass dementiell erkrankte Menschen das Essen verweigerten, wenn es von einer Pflegefachperson gereicht werde, es bei einer Demenzexpertin dagegen problemlos zu sich nehmen würden. Das Essenreichen fordere hier deshalb eine hohe Sensibilität. Da bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz der bewusste Entscheid zum Sterbefasten in Frage gestellt werden muss, ist für Fringer klar: «Bei Demenz ist der FVNF sehr kritisch zu prüfen und klar zu regeln.»

Ebenfalls kritisch zu betrachten sei die palliative Sedierung während dem FVNF, die gemäss der Befragung bei rund 42 Prozent der Fälle eine Option gewesen war und bei rund 36 Prozent bei Bedarf eingesetzt wurde. «Die Kombination von Sterbefasten und palliativer Sedierung ist fragwürdig, weil bei den Betroffenen die Möglichkeit eingeschränkt wird, den Entscheid zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zu reflektieren.»

Health Professionals müssen eine Haltung finden
Grundsätzlich stellten sich beim Sterbefasten zahlreiche ethische Fragen, die geklärt werden müssten, so Fringer. «Es kann sein, dass jemand in seiner Patientenverfügung festlegt, kein Essen und Trinken mehr zu erhalten. Doch was tut man, wenn die Person trotzdem danach verlangt?», nennt der Studienleiter ein mögliches ethisches Dilemma. Die Berufsgruppen, die mit Sterbefasten in Berührung kommen, sollten deshalb bereits in der Ausbildung damit konfrontiert werden. «Health Professionals müssen eine Haltung zu dem Phänomen finden.» Ziel der Studie ist deshalb auch die Entwicklung von Handlungsempfehlungen für Gesundheitsfachpersonen.


Voluntary Stopping of Eating and Drinking in Switzerland from Different Points of View

Projektleitung
Prof. Dr. André Fringer (Forschung und Entwicklung, ZHAW-Institut für Pflege)

Projektteam
Dr. Franzisca Domeisen Benedetti und Sabrina Stängle (Forschung und Entwicklung, ZHAW-Institut für Pflege)

Finanzierung
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)