Lifespan Approach – Gesund altern beginnt am Anfang des Lebens
Der Grundstein für ein gesundes Altern wird früh gelegt
Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit wirken sich bis ins hohe Alter auf die Gesundheit aus. Forscherinnen am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit tragen dazu bei, die Rahmenbedingungen in diesen Phasen zu verbessern, etwa mit Projekten, welche die Health Literacy bei Migrantinnen fördern oder die Zusammenarbeit von Fachpersonen bei der Unterstützung belasteter Familien verbessern.
Ob jemand bis ins hohe Alter gesund bleibt, entscheidet sich manchmal bereits im Mutterleib. Denn das Risiko, im Verlauf des Lebens chronisch zu erkranken, wird durch den Verlauf der Schwangerschaft, der Geburt und der frühen Kindheit massgeblich beeinflusst. «In dieser Zeit wird der Grundstein für die langfristige Gesundheit gelegt», sagt Susanne Grylka, Forscherin am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit. Verschiedenste Faktoren können sich in diesen drei Phasen nachteilig auf die gesundheitliche Entwicklung auswirken. So haben beispielsweise Kinder von Müttern mit einer Präeklampsie – die häufigste medizinische Komplikation während der Schwangerschaft – ein erhöhtes Risiko, im Verlauf ihres Lebens an Diabetes oder an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung wie beispielsweise Bluthochdruck zu leiden. Auch gewisse Eingriffe während der Geburt können sich ein Leben lang nachteilig auf die Gesundheit auswirken: Kaiserschnitte etwa erhöhen das Risiko einer Asthmaerkrankung. Nicht zuletzt haben auch die Ernährung, die Beziehung der Eltern zum Baby und weitere Faktoren in der frühen Kindheit einen grossen Einfluss auf die psychische und körperliche Gesundheit im weiteren Verlauf des Lebens.
Sämtliche Lebensphasen im Blick
Die Erkenntnis, dass sich der Beginn des Lebens auf die Gesundheit bis ins hohe Alter auswirkt, fasste in der Hebammenwissenschaft vor etwa 20 Jahren Fuss. «Natürlich war schon lange davor klar, dass zum Beispiel Geborgenheit entscheidend ist für eine gesunde Entwicklung des Kindes», sagt Susanne Grylka. Doch erst mit dem Aufkommen der Epigenetik, welche die Auswirkungen äusserer Faktoren auf der genetischen Ebene untersucht, konnten die Zusammenhänge beispielsweise zwischen Stress in der Schwangerschaft und einem höheren Risiko beim Kind, an Asthma zu erkranken, nachgewiesen werden. Damit hat auch der Lifespan-Approach in der Arbeit der Hebammen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der Ansatz, der zuerst in der Soziologie und der Entwicklungspsychologie Anwendung fand, untersucht die langfristigen Folgen von Risiko- und Schutzfaktoren in den verschiedenen Lebensphasen auf die Gesundheit und das Krankheitsrisiko im späteren Leben. Der Fokus liegt dabei auf der Entwicklung nichtübertragbarer Krankheiten (engl. Noncommunicable Diseases, kurz NCDs) wie Diabetes, muskuloskelettale Beschwerden, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts herrschte die Überzeugung vor, dass diese durch einen ungesunden Lebensstil und aufgrund von Risikofaktoren im Erwachsenenleben entstehen. Der Lifespan-Approach nimmt bei der Erklärung, wie NCDs entstehen – und damit auch bei deren Prävention – dagegen sämtliche Lebensphasen inklusive der Schwangerschaft in den Blick.
«Zu einem gesunden Älterwerden trägt auch bei, wenn das Kind in der frühen Kindheit gestillt und geliebt wird.»
Für die Arbeit der Hebammen bedeutet dies, «die schwangeren Frauen zu ermuntern, einen möglichst gesunden Lebensstil zu führen und Risikofaktoren wie etwa Stress frühzeitig zu erkennen», so Grylka. Verlaufe die Schwangerschaft physiologisch, gedeihe das Kind gut und komme normal zur Welt, seien seine Chancen, bis ins hohe Alter gesund zu bleiben, am besten. «Zu einem gesunden Älterwerden trägt auch bei, wenn das Kind in der frühen Kindheit gestillt und geliebt wird und sich psychisch sowie körperlich normal entwickeln kann.»
Interprofessionelle Zusammenarbeit für einen guten Start ins Leben
Vor dem Hintergrund des Lifespan-Approach trägt die Forschung am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit dazu bei, dass die Bedingungen am Anfang des Lebens so gut wie möglich sind und damit der Grundstein für ein langfristig gesundes Leben gelegt werden kann. So wirken Forscherinnen beispielsweise mit einer laufenden Evaluation am Projekt «Guter Start ins Familienleben (GUSTAF)» der Gesundheits- und Sozialdirektion Nidwalden mit. GUSTAF soll im Innerschweizer Kanton die interprofessionelle Zusammenarbeit und Koordination zwischen verschiedenen Fachstellen und -personen bei der Unterstützung von psychosozial mehrfach belasteten Familien mit Kleinkindern fördern. «Um Belastungsfaktoren wie Armut oder psychische Erkrankungen der Eltern frühzeitig zu erkennen und den Familien die richtige Unterstützung bieten zu können, ist eine gelingende Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen aus Gesundheit, Sozialwesen und Bildung zentral», erklärt Jessica Pehlke-Milde, Leiterin des Evaluationsprojekts. So könne beispielsweise eine Hebamme eine postpartale Depression zwar erkennen, behandelt werden müsse diese aber von einer Psychologin oder einem Psychologen.
«Je früher die frühkindliche Unterstützung erfolgt, desto wirksamer ist sie.»
GUSTAF soll Hebammen, Mütter- und Väterberatungen, Heilpädagoginnen und weiteren Fachpersonen und -stellen dabei helfen, die Situation von Familien mit Risikofaktoren einfacher und einheitlicher einzuschätzen, ihr Handeln mithilfe von Entscheidungsbäumen und standardisierten Abläufen zu systematisieren und die Zusammenarbeit mit den Familien verbindlicher zu gestalten. «Das Projekt soll dazu beitragen, dass Unterstützungs- und Hilfsangebote den Bedarf der Familien adressieren und koordiniert sind und die Fachpersonen aus den Bereichen Gesundheit-, Soziales und Bildung vernetzt arbeiten», führt Pehlke-Milde aus. «Je früher die frühkindliche Unterstützung erfolgt, desto wirksamer ist sie und desto höher sind die Chancen für eine langfristig gute Entwicklung von Kindern aus belasteten Familien.» Dabei geht es nicht nur um die gesundheitliche Entwicklung: Die ersten fünf Jahre im Leben eines Kindes sind auch prägend für das Berufs- und Sozialleben im Erwachsenenalter. «Studien zeigen, dass sich Massnahmen der frühen Förderung positiv auf die schulische und berufliche Leistung auswirken, den Umgang mit Stress und Aggressionen prägen und sich auf die Bindungsfähigkeit auswirken.»
Erschwerter Zugang für Migrantinnen
Mit einem anderen Projekt möchten Forscherinnen am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit die Health Literacy von Migrantinnen und Migranten in Bezug auf Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett unterstützen: Im Rahmen des interprofessionellen Projekts «Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung (DHEM)», an dem alle fünf Forschungsstellen des ZHAW-Departements Gesundheit beteiligt sind, erarbeiten die Hebammenwissenschaftlerinnen die Grundlagen für ein digitales Informationsmittel.
«Seit vielen Jahren belegen Studien, dass die geburtshilflichen Outcomes von Migrantinnen in der Schweiz sich von denjenigen der einheimischen Bevölkerung unterscheiden», schildert Irina Radu, stellvertretende Leiterin des Teilprojekts der Hebammen, dessen Hintergrund. Das zeige sich beispielsweise durch eine höhere Sterblichkeitsrate bei Müttern mit Migrationserfahrung und ihren Neugeborenen, häufigeren Frühgeburten oder einem grösseren Risiko, an einer postnatalen Depression zu erkranken. Zurückgeführt wird dies unter anderem auf den erschwerten Zugang zu Gesundheitsinformationen und zur Versorgung aufgrund sprachlicher, systembedingter und kultureller Hürden. Zu diesen gehören laut Radu etwa fehlende Informationen zum Schweizer Gesundheitswesen in der Landessprache der Migranten, fehlende Übersetzungsdienste bei Arztterminen, aber auch diskriminierendes Verhalten gegenüber Menschen mit Migrationserfahrung. «Die Frauen bringen ausserdem aus ihren Herkunftsländern ein Vorwissen mit, das die Erwartungen an das Gesundheitswesen prägt.» Je nach Ursprungsort, soziodemografischen Faktoren und individuellen Erfahrungen sind manchen Frauen gewisse Abläufe und Angebote der Geburtsversorgung in der Schweiz weniger bekannt, etwa dass es Geburtsvorbereitungskurse gibt oder dass die Hebamme für die postpartale Versorgung selbständig organisiert wird. «Ihr Wissen darüber, wie die Versorgung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in der Schweiz funktioniert, muss deshalb aktualisiert und ergänzt werden», so Radu.
Apps sind zu wenig bekannt
Die Nachfrage nach digitalen Informationskanälen ist dagegen vorhanden: Die Auswertung internationaler Literatur zum Thema zeigt laut Irina Radu klar, dass Migrantinnen und Migranten offen sind, sich über Apps zu Gesundheitsthemen zu informieren. «Gerade bei den Digital Natives ist die Bereitschaft dazu sehr gross.» Mit dem DHEM-Teilprojekt erarbeiten die Forscherinnen am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit die Grundlagen, um in einem Folgeprojekt ein digitales Informationsmittel zu entwickeln, beispielsweise eine App. «Zentral bei der Entwicklung eines solchen Tools wird der Einbezug der Betroffenen sein», sagt Radu. So könne verhindert werden, dass die App an den Bedürfnissen der Migrantinnen und Migranten vorbei entwickelt wird.
Prof Dr. Jessica Pehlke-Milde
ZHAW Gesundheit
Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung (interprofessionelles Forschungsprojekt der fünf Forschungsstellen am ZHAW-Departement Gesundheit)
Projektleitung
Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde (Forschung ZHAW-Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit)
Stellvertretende Projektleitung Teilprojekt Hebammen
Irina Radu (Forschung ZHAW-Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit)
Co-Projektleitung
Prof. Dr. Julia Dratva (Forschung ZHAW-Institut für Public Health)
Prof. Dr. Daniela Händler-Schuster (Forschung und Entwicklung ZHAW-Institut für Pflege)
Mandy Scheermesser (Forschung und Entwicklung ZHAW-Institut für Physiotherapie)
Dr. Christina Schulze (Forschung und Entwicklung ZHAW-Institut für Ergotherapie)
Projektteam
Dr. Martina Spiess (Forschung und Entwicklung ZHAW-Institut für Ergotherapie)
Dr. Patricia Schwärzler und Dr. Annina Zysset (Forschung ZHAW-Institut für Public Health)
Projektpartner
Prof. Dr. Agnes von Wyl (ZHAW Angewandte Psychologie)
Prof. Dr. Miryam Eser Davolio (ZHAW Soziale Arbeit)
Prof. Dr. Ulla Kleinberger (ZHAW Angewandte Linguistik)
Finanzierung
ZHAW-Forschungsschwerpunkt «Gesellschaftliche Integration»
Evaluation Guter Start ins Familienleben (GUSTAF)
Co-Projektleitung
Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde (Forschung ZHAW-Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit), Prof. Dr. Marion Huber (Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis, ZHAW-Departement Gesundheit)
Teammitglied
Irina Radu (Forschung ZHAW-Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit)
Finanzierung
Kanton Nidwalden