Lifespan Approach – Gesund altern beginnt am Anfang des Lebens

Was ein höheres Rentenalter für die Gesundheit bedeutet

Um die negativen Folgen einer alternden Gesellschaft auf das Rentensystem zu verringern, haben verschiedene Länder das Pensionsalter heraufgesetzt. Isabel Baumann, Forscherin am Institut für Public Health, untersucht, welche Auswirkungen eine solche Verlängerung des Arbeitslebens auf die Gesundheit älterer Arbeitnehmender hat.

Ab welchem Alter sollen erwerbstätige Menschen in Rente gehen? Diese Frage treibt die Politik in der Schweiz, aber auch in anderen Ländern seit Jahren um. Denn die steigende Lebenserwartung stellt die Altersvorsorge vor grosse Herausforderungen: Die Rentensysteme müssen eine immer grössere Zahl von pensionierten Menschen über einen immer längeren Zeitraum finanzieren. Um den finanziellen Druck auf das Rentensystem zu verringern, wurde in vielen westlichen Ländern das ordentliche Rentenalter nach oben gesetzt oder es steht – wie derzeit in der Schweiz – eine Erhöhung zur Debatte. Dabei wird ein Aspekt jedoch häufig ausser Acht gelassen: die Gesundheit älterer Arbeitnehmender.

Arbeit hat einen grossen Einfluss auf die Gesundheit
Aus Sicht des Lifespan Approach, der den Einfluss von Risiko- und Schutzfaktoren auf die Gesundheit in den verschiedenen Lebensabschnitten betrachtet, ist klar: Das Arbeitsleben hat einen grossen Einfluss auf die Gesundheit. «Die Art des Berufs, der Lohn, ob jemand Teil- oder Vollzeit arbeitet, Nacht- oder Schichtarbeit leistet – all diese Aspekte wirken sich auf die Gesundheit aus; nicht nur während des Erwerbslebens, sondern auch darüber hinaus», sagt Isabel Baumann. Die Forscherin am Institut für Public Health leitet ein über vier Jahre laufendes Projekt, das die gesundheitlichen Konsequenzen einer Erhöhung des Rentenalters untersucht und in Zusammenarbeit mit Universitäten in der Schweiz, Schweden, den USA und Chile durchgeführt wird.

«Nicht alle wollen länger arbeiten. Viele ältere Menschen müssen im Arbeitsmarkt bleiben, wenn sie nach der Pensionierung nicht in die Altersarmut abrutschen wollen.»

Im Fokus des durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Projekts steht die Frage, ob und wie sich ein längeres Arbeitsleben auf verschiedene sozioökonomische Gruppen – beispielsweise unterschiedliche Berufsgruppen – auswirkt und ob es bestehende gesundheitliche Ungleichheiten verstärkt. «Dabei untersuchen wir auch, ob es Anpassungen bei den Arbeitsbedingungen braucht, damit ältere Menschen länger im Arbeitsmarkt verbleiben können und wollen», erläutert Baumann. Zwar sei in den letzten zwei Jahrzehnten der Anteil von Personen, die über das gesetzlich vorgeschriebene Rentenalter hinaus arbeiten, ständig gewachsen – in der Schweiz seien derzeit über 20 Prozent der 65- bis 69-Jährigen berufstätig. «Allerdings: Nicht alle wollen länger arbeiten. Viele ältere Menschen müssen im Arbeitsmarkt bleiben, wenn sie nach der Pensionierung nicht in die Altersarmut abrutschen wollen.»

Gesundheitliche Probleme bei körperlicher Arbeit am häufigsten
Um herauszufinden, wie Gesundheit, Verlauf des Arbeitslebens und Zeitpunkt der Pensionierung zusammenhängen, analysierte Baumann in Zusammenarbeit mit Sonja Feer und Julia Dratva (ZHAW-Institut für Public Health) sowie Oliver Lipps vom Swiss Centre of Expertise in the Social Sciences (FORS) Langzeitdaten aus verschiedenen Ländern, darunter auch solche aus der Längsschnittstudie «Schweizer Haushalt-Panel». Deren Auswertung ergab unter anderem, dass die Arbeitszeit bei Menschen in manuellen Berufen – etwa Handwerkerinnen – in den letzten Jahren vor dem gesetzlichen Rentenalter weniger rasch abnimmt als bei Personen, die in nicht-manuellen Berufen tätig sind. «Das könnte daran liegen, dass sie zu wenig verdienen und sich Teilzeitarbeit oder eine Frühpensionierung nicht leisten können», vermutet Baumann. Zudem schätzen körperlich tätige Arbeitnehmende ihren Gesundheitszustand als deutlich schlechter ein als Personen in einem nicht-manuellen Beruf. Und: Der negative Einfluss des Faktors Alter auf die Gesundheit ist bei ihnen am stärksten ausgeprägt. «Die Daten zeigen: Das Risiko, gesundheitliche Probleme zu entwickeln, ist bei körperlicher Arbeit signifikant grösser – und verstärkt sich im Alter noch», sagt Baumann. «Das sind Hinweise darauf, dass eine Erhöhung des Rentenalters gesundheitliche Ungleichheiten zwischen manuellen und nicht-manuellen Berufen noch verstärken könnte.»

Kaum Erleichterungen für ältere Arbeitnehmende
Die gesundheitsschädigenden Folgen der Arbeit und damit auch die gesundheitliche Ungleichheit liessen sich mit präventiven Massnahmen verringern, sagt Baumann. «In dieser Hinsicht hat man in den vergangenen Jahrzehnten in der Schweiz enorme Fortschritte gemacht.» Was es hierzulande dagegen noch wenig gebe, so das Resultat einer im Rahmen des Projekts von Jasmine Suter verfassten Bachelorarbeit, sind gezielte Anpassungen der Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmende oder altersspezifische Massnahmen im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Ausnahmen bildeten zusätzliche Ferien für ältere Berufstätige oder in gewissen Branchen, wie etwa im Baugewerbe, die Möglichkeit einer Frühpensionierung. «Es fehlt jedoch beispielsweise das Recht auf Teilzeitarbeit, wie es unter anderem in Deutschland gesetzlich festgelegt ist. Möchten ältere Arbeitnehmende in der Schweiz ihre Arbeitszeit reduzieren, sind sie auf den Goodwill des Betriebs angewiesen.» Die im Rahmen der Bachelorarbeit durchgeführten Befragungen von HR-Verantwortlichen, aber auch von älteren Arbeitnehmenden selbst geben Hinweise darauf, weshalb es bislang kaum Massnahmen für Berufstätige im fortgeschrittenen Alter gibt: Man macht sich Sorgen, dass diese Massnahmen als diskriminierend empfunden werden. «Man möchte die älteren Arbeitnehmenden nicht stigmatisieren», sagt Baumann.

Möglichst knappe Rentenleistungen?
Dass attraktive Arbeitsbedingungen wichtig sein dürften, damit ältere Menschen länger im Arbeitsmarkt verbleiben wollen und können, darauf lassen weitere Ergebnisse des Projekts schliessen. In einer ihrer Studien untersuchte Baumann zusammen mit Ignacio Madero-Cabib von der Katholischen Universität Chile die Rentenübergänge in Chile, den USA sowie in Dänemark und Schweden – allesamt Länder, die ein flexibles Rentenalter kennen. Eine solche Flexibilisierung wird in der Schweiz im Rahmen der AHV-Reform «AHV 21» als möglicher Ansatz diskutiert, um ältere Menschen länger im Arbeitsmarkt zu halten. Die Erfahrung aus den untersuchten Ländern zeigt aber, dass dieser Mechanismus nicht wie erhofft spielt: In allen vier untersuchten Ländern stellt die Frühpensionierung die mit Abstand häufigste Form des Rentenübergangs dar.

«Ein flexibles Rentensystem führt nicht automatisch dazu, dass mehr ältere Menschen länger arbeiten. Oder zumindest nicht in dem Masse, wie sich das die Politik von einem solchen System erhofft», sagt Baumann. Die Studie förderte ausserdem zutage, dass in den USA und in Chile – liberale Länder mit verhältnismässig tiefen Rentenleistungen – der Altersrücktritt tendenziell später stattfindet als in den sozialdemokratisch geprägten skandinavischen Ländern mit besseren Leistungen. «In Systemen mit grosszügigeren Leistungen ist der Anreiz kleiner, länger zu arbeiten. Man könnte deshalb mit möglichst knappen Renten ältere Menschen dazu bewegen, länger zu arbeiten.» Bei Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen gar nicht länger arbeiten können, würde ein solches System das Risiko der Altersarmut vergrössern – «und damit der Grundidee der Altersvorsorge widersprechen.» Zielführender könnten Massnahmen sein, die die gesundheitlich belastenden Aspekte der Arbeit reduzieren und den Verbleib in der Arbeitswelt attraktiver machen.


Gesundheitliche Ungleichheit im Kontext einer Verlängerung des Arbeitslebens

Projektleitung
Dr. Isabel Baumann

Stellv. Projektleitung
Prof. Dr. Julia Dratva

Projektteam
Prof. Dr. Neda Agahi, Erica Benz, Harpa Sif Eyjólfsdóttir, Sonja Feer, Prof. Dr. Johann Fritzell, Dr. Ariane Froidevaux, Prof. Dr. Linda Hassing, Dr. Andreas Ihle, Prof. Dr. Boo Johansson, Dr. Nicholas V. Karayannis, Prof. Dr. Matthias Kliegel, Dr. Stefanie König, Prof. Dr. Ignacio Madero-Cabib, Prof. Dr. Christian Maggiori, Ulrich Roth, Prof. Dr. John A. Sturgeon, Aylin Wagner, Linn Zulka

Finanzierung
Förderprogramm Ambizione des Schweizerischen Nationalfonds (SNF)

Projektpartner
Centre interfacultaire de géronotologie et d’études de vulnérabilités – Université de Genève; Aging Research Center – Karolinska Institute; Research Group Adult Development and Aging – Gothenburg University; Haute école de travail social Fribourg HETS-FR; Faculty of Social Sciences – University of Chile; University of Texas at Arlington; School of Medicine – Stanford University; School of Medicine – University of Washington; Innovage